Erfahrungsbericht Hartmut

„Jeder kann etwas dafür tun“

Erfahrungsbericht Hartmut

In einer kühlen Gesellschaft

Als Betroffener einer psychischen Erkrankung weiß ich, Stigmatisierungen spielen in unserer Gesellschaft eine große Rolle. In allen Bereichen, bei allen Erkrankungen, Behinderungen und sogenannten Eigenarten der Menschen. Offen werden diese Stigmatisierungen ausgeübt – und auch auf subtile Weise.

In meinen Lesungen, die ich bundesweit halte, spreche ich von meiner Botschaft, dass man sich mit einer psychischen Erkrankung nicht verstecken darf. Meine Forderung ist ein offener Umgang mit diesen Erkrankungen.

Mir ist es auch wichtig, das Stigma von diesen Erkrankungen zu nehmen. Es darf nicht sein, dass psychisch Erkrankte als labil, unberechenbar oder gar gefährlich dargestellt werden. Immer wieder in meinen Lesungen merke ich, wie sich Menschen in dieser kühlen Gesellschaft verstecken und von meinen offenen Worten in den Lesungen aufweichen und merken, dass es doch möglich ist, darüber offen zu sprechen.

Meine Gedanken gehen zu all den sogenannten Gruppen dieser Gesellschaft, die stigmatisiert werden. In allen Bereichen sollte mehr Aufklärungsarbeit stattfinden. Den Menschen, die durch andere oder die Medien verunsichert werden, müssen die Angst und die Hemmung genommen werden. Ihnen muss klar werden, warum ein Mensch diese Erkrankung bekommt, wie sie sich äußert und welche Prognose besteht. Wie kann Aufklärungsarbeit geschehen? Durch Aktionen der staatlichen Stellen, der Kirche und Diakonie. Durch eine transparente und offene Psychiatrie und anderer medizinischer Bereiche. Durch Lesungen und Vorträge von Betroffenen und auch Ärzten und Psychologen.

Ich halte es für wichtig, dass alle Menschen, die an psychischen oder anderen Erkrankungen leiden, auch dieselbe gute Chance haben, hinaus in eine positive, gesunde und selbstbestimmte Welt zu kommen.

Auch ich sehe solche Ungerechtigkeiten und Stigmatisierungen. Aber ich hüte mich davor, die Zuhörer in meinen Lesungen und die Leser in meinen Texten aufzuhetzen. Jeder schaue in seine Familie, zu den Ärzten und Psychologen, das medizinische Personal und überhaupt zu seinen Mitmenschen – das ist der Durchschnitt der Gesellschaft.

In einem Lexikon lese ich, was ein Stigma ist – es ist die Kluft zwischen dem, was eine Person sein sollte und ihrer wirklichen sozialen Identität, was sie wirklich ist. Es ist eine Kluft, über die meiner Meinung nach nicht diskutiert zu werden braucht. Jeder ist ein Unikum, etwas Eigenes und Originelles – das ist doch nicht schlimm.

Nicht einmal ansatzweise sollte dies in einer sozialen Gesellschaft ein Thema sein. Leider sind an vielen Stellen massive Stigmatisierungen zu spüren. Wie es die Bibel sagt – jeder ist ein Fremder in Ägypten gewesen. Doch die Menschen halten Gericht über das andere in den Menschen.

Jean-Paul Sartre setzte 1943 in seinem Theaterstück „Geschlossene Gesellschaft“ seine drei Protagonisten mitten in die Hölle und machte jeden von ihnen zum Folterknecht der beiden anderen. Sartre wollte sagen, dass wir im Grunde Kenntnisse benutzen, die die andern über uns schon haben. Was ich auch in mir fühle, das Urteil andrer spielt hinein. Wenn ich von stigmatisierenden Menschen umgeben bin, begebe ich mich in die totale Abhängigkeit von denen. Und dann bin ich tatsächlich in der Hölle. Und es gibt eine Menge Leute auf der Welt, die in der Hölle sind, weil sie zu sehr vom Urteil andrer abhängen.

In einer Lesung, die ich in einer Klinik hauptsächlich vor Patienten gehalten habe, stellte mir ein Betroffener einer psychischen Erkrankung eine interessante Frage. Er erzählte von seiner Studiengruppe. Alle wissen von seiner psychischen Erkrankung. Und er meinte, dass sie ihn ärgern und sich über ihn lustig machen, weil er anders für sie ist. Was sollte er tun?

Ich sagte zu ihm: „Ich möchte Ihnen eine gute Antwort geben, eine, die Ihnen hilft – nicht einfach daher gesagt. Wenn Sie nun bei diesen Stigmatisierungen aufstehen und sagen, dass es jedem passieren kann, denke ich daran, ob Sie überhaupt den Mut dazu haben. Vielleicht würde das Gestichel noch schlimmer werden. Und Sie müssen und wollen ja in der Gruppe weiterhin bleiben.

Mir fällt etwas Gutes ein. Suchen Sie in den Anderen Verbündete! Bei den anderen wird es einen oder zwei geben, die nicht ganz so hart bei den Sticheleien reagieren. Gehen Sie auf diese Personen zu und sprechen Sie mit denen. Sie werden Erfolg haben, es könnte sein, dass Sie durch Ihre Fähigkeiten in den Anderen Verblüffung und Achtung erzeugen.“

Längerfristig könnte Offenheit aller Seiten Erfolg haben. Stigmatisierungen entstehen durch Unwissenheit und die Angst vor dem Fremden, dem Anderen. Umfassende Aufklärung kann uns Menschen helfen respektvoll und ohne Vorurteile zusammen zu leben.

Jeder kann etwas dafür tun – in jeder Familie, in jedem Freundeskreis und unter Kollegen gibt es Menschen, die Stigmatisierungen ausgesetzt sind – fassen Sie Mut und setzen Sie sich ein – denken Sie daran, man selbst kann in eine ähnliche Situation geraten.

Von Hartmut Haker

 

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