Neuigkeit vom 07. September 2021

Der 54. BrückeFunke

Liebe Leudde,

wie ihr vielleicht mitbekommen habt, organisieren wir derzeit für den 24. September eine Veranstaltung rund um den „Offenen Dialog“. Als wir uns entschieden haben, die Menschen zu dem Thema ins Gespräch bringen zu  wollen, hatten wir noch eine recht lückenhafte Vorstellung davon, was sich hinter diesem Behandlungskonzept verbirgt. Deshalb haben wir in den vergangenen Wochen versucht, uns ein genaueres Bild davon zu machen. Da sich möglicherweise auch schon von euch Leser*innen welche für die Veranstaltung angemeldet haben - oder einige noch unentschlossen sind - möchten wir die bei der Recherche aufgeblinkten Glühbirnen der Erkenntnis gern mit euch teilen. Dabei eine Notiz vorab: Wir können natürlich kein umfassendes Bild vermitteln, sondern nur einen subjektiven Ausschnitt von dem, was uns persönlich wichtig erscheint. Zum Glück - wir wollen ja am 24. September noch ganz viel dazulernen :-)!

Zu Beginn unserer Recherche haben wir uns gemeinsam den Film „Open Dialogue“ von Daniel Mackler angeschaut. Mackler ist US-amerikanischer Psychotherapeut und hat in diversen Forschungsartikeln gelesen, dass die Finnen in der Region Westlappland die weltweit besten statistischen Ergebnisse in der Behandlung von Psychosen erzielen1: Studien legen nahe, dass durch diesen gemeindepsychiatrischen Versorgungsansatz stationäre Aufenthalte verringert werden können, seltener psychotische Symptome berichtet werden und weniger Rückfälle auftreten, wobei nur rund ein Drittel der Patient*innen eine medikamentöse Therapie mit Neuroleptika erhält. Zudem weisen Untersuchungsergebnisse darauf hin, dass die soziale und berufliche Integration der Betroffenen besser gelingt2. Mit viel Neugier und Fragen im Gepäck macht sich Daniel Mackler deshalb auf die Reise nach Europa und spricht mit Jaakko Seikkula, der das Konzept mit entwickelt hat, sowie mit den Kolleg*innen eines multidisziplinären Teams, die Menschen nach dem Prinzip des Offenen Dialogs begleiten. Der Film ist frei im Internet verfügbar: http://www.offener-dialog.de/materialien/der-film-/index.html. Es ist eine Freude mit anzuschauen, wie der Filmemacher im Verlauf der Interviews tief beeindruckt ist durch Optimismus sowie Selbstverständlichkeit der Durchführenden. Seine und auch unsere Vorstellung, wie psychiatrische Versorgung aussehen kann, wird auf inspirierende Weise herausgefordert und in Frage gestellt. Eine definitive Schauempfehlung unsererseits! :-)

Zunächst einmal ein paar Worte dazu, welches Verständnis einer Psychose dem Offenen Dialog zugrunde liegt: Eine Psychose wird als Reaktion auf eine sehr belastende Situation begriffen; auf ein Dilemma im (emotionalen) Leben der betroffenen Person. Im Dialog wird mit diesem Dilemma gearbeitet, sodass die Symptome verschwinden können. Eine Psychose entsteht im zwischenmenschlichen Raum, in Bezie-hungen. Deshalb ist der Einbezug des sozialen Netzwerks in die Behandlung von zentraler Bedeutung und einer Behandlung im Krankenhaus vorzuziehen; letztere wird nur dann gewählt, wenn der/die Klient*in einen Zufluchts- und Rückzugsort benötigt. In dem Film heißt es „psychotic meaning making is meaning making“ (in Deutsch etwa: Psychotische Bedeutungsgebung ist Bedeutungsgebung). Meist hat das psychotische Erleben einen direkten Bezug zu dem, was die betroffene Person in ihrem Leben erfahren hat. Der Offene Dialog ist ein Weg, für das psychotische Erleben eine Sprache zu finden. Dem Verständnis nach kann prinzipiell jede Person eine Psychose bekommen.

Der Offene Dialog beruht auf sieben Prinzipien (vgl. http://www.offener-dialog.de/der-offene-dialog/die-sieben-therapeutischen-prinzipien/index.html):

  1. Sofortige Hilfe: Innerhalb von 24 Stunden nach dem Erstkontakt findet das erste Netzwerktreffen an einem für die betroffene Person sicheren Ort statt. Dies wird damit begründet, dass gerade zu Beginn der Krise psychotisches Erleben leichter zur Sprache kommen kann.
  2. Einbezug des sozialen Netzwerks; auch bei einer akuten Psychose: Dies können Familien-angehörige, Freund*innen, Nachbarn, EXINler*innen, ausgebildete Fachkräfte und ggf. auch zeitweise Personen aus dem Berufs- oder Ausbildungskontext sein. Das Team begreift sich als Gast im Leben der betroffenen Person; wichtig ist das Verständnis der Person und ihres Erlebens seitens der nahestehenden Personen. Die Familie nimmt im Prozess eine entscheidende und aktive Rolle ein.
  3. Flexible Einstellung auf die Bedürfnisse: Anpassung an die Lebenswelt der betroffenen Person und Anerkennung der Krise als einmaliges Geschehen, dass eine individuelle Lösung erfordert.
  4. Verantwortung: Das Behandlungsteam ist verantwortlich für das Organisieren der Therapieversammlung. Es wird gemeinsam entwickelt, wie der optimale Weg aus der Krise aussehen kann.
  5. Psychologische Kontinuität: Das Behandlungsteam sollte zur Vermittlung von Sicherheit und dem Vorbeugen von Therapieabbrüchen in seiner Zusammensetzung konstant bleiben. Der/die ambulante Psychotherapeut*in kann als Teil des vertrauten Netzwerks im Bedarfsfall zu den Treffen dazukommen.
  6. Aushalten von Ungewissheit: Zentral ist die therapeutische Grundhaltung, ohne schnelle (Vor-) Annahmen und Wertungen sowie mit dem Fokus auf Verständnis und Vertrauen die Einzelperson als Expert*in für seine/ihre Erfahrungen zu betrachten. Dazu im Film: „Wir sind keine Professionellen, die sofort alles wissen müssen“. Die so entstehende Gesprächssituation wird als Sicherheit vermittelndes Element verstanden. Nicht das Finden einer Lösung ist das Ziel der Sitzung, sondern der Dialog an sich. Lösungen entstehen während des Prozesses, Veränderung passiert unmittelbar.
  7. Förderung des Dialogs: Jede Stimme ist wichtig und soll gehört werden; auch die einzelnen Stimmen innerhalb jeder Person. In den Dialogen liegt der Fokus auf Augenhöhe, Offenheit und Empathie; es geht nicht darum, die betroffene Person zu verändern, sondern darum, die eigene Haltung anzupassen. Die Netzwerktreffen ermöglichen ein gemeinsames Nachdenken und Austauschen von Ideen über Lösungswege: „Wir haben die Vorstellung, Menschen zuzuhören und miteinander etwas zu gestalten, das darauf basiert.“

Eine weitere Besonderheit ist, dass angestrebt wird, innerhalb der ersten drei bis vier Wochen einer Psychose auf die Vergabe von Neuroleptika zu verzichten. Diese kommen, wenn überhaupt, erst im späteren Behandlungsverlauf und mit der kleinstmöglichen Menge zum Einsatz, um Nebenwirkungen gering zu halten. Im Film wird beschrieben, dass bei Behandlungsbeginn – auch wiederum in kleinstmöglicher Dosis – eher Schlafmittel und angstlösende Medikamente verwendet werden; etwa wenn eine Person im psychotischen Erleben mehrere Tage nicht geschlafen hat.  Die Vergabe von Medikamenten wird in den Netzwerkgesprächen ausführlich unter den Beteiligten diskutiert. Zudem wird angestrebt, verschiedene Therapieformen miteinander zu kombinieren.

Wer sich einen Einblick aus Nutzer*innenperspektive wünscht, dem/der sei der Artikel von Katrin Schneider empfohlen. Sie ist Klientin im ambulant betreuten Wohnen bei „Zukunft Leben“ in Düsseldorf; einer Einrichtung, die nach den Prinzipien des Offenen Dialogs arbeitet. Hier ein anschaulicher Auszug:

„Die Professionellen beschreiben ihre Gefühle und was das Gehörte mit ihnen macht, nehmen Anteil und füh­len sich ein, denn „Teilen ist heilsam“. Der Ausspruch „Ich fühle“ ist für mich überhaupt etwas sehr Kraftvolles aus dem Mund einer betreuenden Person.“ Den ganzen Artikel findet ihr hier: https://zukunft-leben.com/wp-content/uploads/2020/12/Offener_Dialog_Kerbe_4_2020.pdf.

Wenn ihr mehr Material sucht oder etwas zu den Rahmenbedingungen des Dialogs erfahren wollt, schaut doch mal auf dieser Website vorbei: http://www.offener-dialog.de/.

Wenn euch dieser Text Lust auf die Veranstaltung gemacht hat, meldet euch gern bei uns.

Wir sind gespannt auf eure Eindrücke und freuen uns auf den Austausch mit euch! :-)

Bis dahin wünschen wir euch gute Tage und viel Gesundheit.

Bis bald, Bente und Roger                                      

Präventionsteam der Brücke Flensburg

1Mittlerweile wurde das Behandlungskonzept auch für andere Erkrankungsbilder angepasst, beispielsweise für Traumafolgestörungen, affektive Störungen oder emotional-instabile Persönlichkeitsstörung.

2 Vgl. Giertz, K., & Aderhold, V. (2020). Der Offene Dialog als Teilhabeleistung im Rahmen des BTHG. Aus Giertz, K., Große, L., & Röh, D. (Hrsg.) Methoden der qualifizierten Assistenz zur sozialen Teilhabe. Psychiatrie Verlag.

Diese Funke-Ausgabe könnt ihr HIER downloaden.

Wer uns eine Email an praevention@bruecke-flensburg schickt, kann den BrückeFunke auch regelmäßig von uns zugesandt bekommen und verpasst keine Ausgabe!

Alle Ausgaben zum Nachlesen HIER.

Flensburger Wochen der Seelischen Gesundheit

Auch in diesem Jahr organisieren das Präventionsprojekt der Brücke Flensburg und die Gesundheitsplanung der Stadt Flensburg gemeinsam mit vielen Kooperationspartner*innen die Flensburger Wochen der Seelischen Gesundheit.

Wir wünschen euch viel Freude beim Stöbern im Programm und hoffen, es ist für jede/n etwas dabei!

Bitte beachtet: Viele Veranstaltungen sind kostenfrei, erfordern aber dennoch eine Anmeldung.

Wir freuen uns auf Sie und euch!

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Der 67. BrückeFunke

Liebe Leute,

Und zack, hat uns die dunkle Jahreszeit wieder voll im Griff. Also mehr Zeit zum Lesen und Zeit für eine neue Portion Positive Psychologie: Heute schreiben wir über das Thema Resilienz. Und wer wäre da ein besseres einleitendes Beispiel als Pippi Langstrumpf? Sie ist wohl eines der berühmtesten Beispiele für ein resilientes Kind: Sie wohnt ganz allein mit ihren Haustieren in einer riesigen Villa, ihr Vater ist irgendwo in der Südsee unterwegs, ihre Mutter verstorben – ganz schön viele große Herausforderungen für ihre jungen zehn Jahre. Und trotzdem strotzt sie nur so vor Optimismus, macht ihren Nachbarskindern Mut und hat jede Menge Selbstvertrauen: „Der Sturm wird stärker. Ich auch.“ Wie macht Pippi das? Oder anders gesagt: Was genau ist eigentlich Resilienz? Dieser Frage möchten wir mit der heutigen Ausgabe auf den Grund gehen.

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